Knappe vier Wochen, nachdem ich zum ersten Mal japanische Luft schnupperte kehre ich nach Tokio zurück. Ich besuche noch einmal die Shibuya Kreuzung, fahre mit dem Aufzug ins 42. Stockwerk des Metropolitan Government Buildings und lasse mich von den Lichtern in Shinjuku blenden. An meinem letzten Abend in Japan laufe ich durch Shibuya, beobachte die feiernden Mengen japanischer Jugendlicher und europäischer Touristen und suche nach einer kleinen, ruhigen Kneipe. Eine letzte Bar, ein letzter Sake – die Reise Revue passieren lassen.
Wie ist eigentlich die womöglich verrückteste Metropole der Welt, wenn man sich mal an Japan gewöhnt hat?
Ganz ehrlich? Auffällig unspektakulär. Der Eindruck, den man in Europa von Tokio immer wieder bekommt ist zwar nicht aus der Luft gegriffen, bestimmt aber nicht das alltägliche Straßenbild. Ja, die Shibuya Kreuzung ist tatsächlich sehr wuselig. Aber es ist eben nur eine Kreuzung. Ja, Japaner haben riesige Werbetafeln mit eigenartigen Anime-Charakteren. Aber die sieht man eben nicht überall. Ja, die Metro kann ganz schön voll werden. Aber das ist eben nur während der Rush-Hour der Fall.
Im Grunde genommen ist Tokio eine ruhige, saubere Stadt. Man hält sich hier an Regeln und respektiert sein Umfeld. Der Verkehr fließt – im Übrigen sind die Straßen weitaus weniger verstopft als etwa in New York – und man kann auf dem Gehweg laufen, ohne hunderte von Menschen um sich herum zu haben. Die Hektik, die man von dieser Metropole immer vor Augen hat, stellt sich im Alltag als seltenes Ereignis heraus. Japaner schlendern auffällig häufig und überall findet man Parks, die der geistigen Erholung dienen.
Was von außen betrachtet häufig als überdrehter Manhatten-Abklatsch wirkt ist tatsächlich eine Stadt mit einer langen Geschichte, die Stolz auf ihre Art zu leben ist. Das gilt ohnehin für ganz Japan.
Von all den Ländern, die ich in meinem Leben bereist habe, hat mich noch keines so fasziniert wie das Land der aufgehenden Sonne. Dass eine ganze Gesellschaft die Tradition des Respekts und der Disziplin so achtet, hätte ich nicht für möglich gehalten. Auch pubertierende Jugendliche, die auf den ersten Blick wirken, als existierten sie nur zum Protest gegen alles stehen auf, wenn alte Menschen in die Bahn kommen. Das Ideal der Samurai, das auch heute noch allgegenwärtig ist, treibt Japaner an, ohne Klagen ihre Arbeit zu verrichten.
Das Verhalten der Arbeiter nach der Katastrophe in Fukushima beeindruckte damals die ganze Welt. Menschen, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um ihre Arbeit fertig zu bringen, den Reaktor ordentlich nach Vorschrift abzuschalten und damit womöglich tausenden Mitmenschen das Leben zu retten – das wirkt für einen Europäer eher unwahrscheinlich. Auch nach dieser Reise beeindruckt mich das Verhalten der Arbeiter. Aber es überrascht mich nicht mehr. Ich würde jede Wette annehmen, dass die Reaktion auf eine vergleichbare Katastrophe jederzeit wieder genauso ausfallen würde – es ist einfach Teil der japanischen Art. Und diese Art kennenzulernen, war eine Erfahrung für die ich dem ganzen Land dankbar bin.
Bereue ich etwas? Klar! Ich bereue kostspielige Fehler. Ich bereue, nicht hartnäckiger nach Couchsurfing-Gelegenheiten gesucht zu haben. Ich bereue, abgeschreckt durch die sprachliche Barriere, nicht öfter einfach mit Menschen geredet zu haben. Ich bereue, das getan zu haben, was jeder Alleinreisende irgendwann tut und in Tagträume verfallen zu sein anstatt meine Umgebung zu beobachten. Irgendwann ist die Ausdauer ganz einfach dahin. Gegen Ende meiner Reise wurde ich immer mehr vom stillen Beobachter zum passiven Denker. Ich bereue es auch, Japan unmittelbar vor Taiwan eingegliedert zu haben. Auch wenn ich mich auf mein bevorstehendes Auslandssemester freue, hat der Inselstatt ein schweres Erbe anzutreten.
So sitze ich also in einer kleinen Bar in Tokio und denke über meine Reise nach. Über dem Ausgang steht ein Fernseher, in dem mal wieder eine verwirrende japanische Spielshow läuft. In der Ecke unterhalten sich zwei Frauen. Vor mir steht mein Sake in einem kleinen Steinkrug und der melancholische Schlager, der aus dem Lautsprecher dröhnt, passt zu meiner Stimmung. Sentimental muss ich feststellen, dass ich schon morgen Mittag im Flieger sitze und dieses wundervolle Land im Pazifik hinter mir lassen muss. Auch wenn meine Reise in Taiwan weitergeht, beginnt für mich dort eine neue Zeitrechnung. Japan werde ich hinter mir lassen. Müssen.
Arigato gozaimasu!
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