Zwei oder drei der fünf roten Dächer einer Pagode in kräftiger Farbe. Umrahmt von einem Meer aus unzähligen weich-rosa blühenden Kirschblüten. Dahinter eine weite Landschaft mit einem klaren See, der so ruhig vor sich hinvegetiert, dass die Szenerie im Hintergrund sich darin spiegelt. Kurz vor dem Horizont tut sich ein mächtiger Vulkan auf und fängt mit seinem Anblick den irrenden Blick des Beobachters. Sein Gipfel ist noch schneebedeckt und er vollendet ein wundersames Bild.
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Ein Fotograf, an dem ich mich sehr orientiere – Stephan Wiesner – bringt mehrmals jährlich ein Magazin mit dem Titel „Zielfoto“ heraus. Auch wenn ich es ehrlich gestanden noch nie gekauft habe, empfinde ich den Namen eine Umschreibung eines interessanten Konzepts. Immer, wenn ich zum Fotografieren losziehe – ob es ein kurzer Trip in die Innenstadt oder eine mehrwöchige Reise ist – habe ich ein bestimmtes Bild im Kopf, das ich bei diesem Ausflug kreieren will. Das muss nicht einmal ein origineller Einfall sein – bei mir unbekannten Orten ist das Zielfoto häufig eine freche Kopie eines mir bekannten Werks. Aber irgendwie gibt es doch eine Anlaufstelle, was man da eigentlich vorhat.
Mein Zielfoto für Japan war das oben beschriebene. Ich bin wirklich nicht der Erste mit der Idee, das Land der aufgehenden Sonne derart dazustellen. Quasi jeder Reiseführer hat genau dieses Bild auf dem Cover. Und doch gefällt es mir so gut, dass ich meine eigene Version davon wollte.
Ich beginne mit dieser Einleitung, weil sie auch ein bisschen meine Vorbereitung auf diese Reise widerspiegelt. Der Mount Fuji – er ist auf diesen Bildern der Vulkan – hat im Sommer keinen Schnee an der Spitze, Kirschblüten blühen im April und die Chureito Pagode, die auf diesen Bildern stets den Vordergrund darstellt, hat zwischen sich und dem Berg keinen See, in dem sich selbiger spiegeln könnte.
Blauäugig wie ich nun mal bin – wobei ich in diesem Fall eher den Ausdruck „spontan“ bevorzugen würde – buchte ich eine Unterkunft in Kawaguchiko, um genau dieses Bild zu schießen. Erst dort angekommen wurde mir klar, dass dieses Bild so nicht entstehen wird. Außerdem wurde mir klar, dass es in dieser Stadt außer einigen Hotels und einem großen See nicht viel gibt. Naja, ich musste mich ja nur einen Tag lang beschäftigen und irgendwann wird man den Berg schon sehen. Keine Pagode, keine Kirschblüten, kein Schnee. Wenigstens den Vulkan wie er sich im Wasser spiegelt wollte ich ablichten.
Nachdem mich Kawaguchiko am Abend meiner Ankunft mit strömendem Regen empfing, sah der nächste Tag schon sehr viel angenehmer aus. Ich gönnte mir für 500 Yen das Hostelfrühstück und setze mich auf die Terrasse. Der Blick auf den Vulkan, der sich wie ein Gebilde einer anderen Größenordnung hinter den winzig wirkenden Häusern der Stadt auftut, war noch ausgesprochen gut, sodass ich keine Eile verspürte. Stattdessen erfreute ich mich an dem Insekt, das da auf meiner rechten Schulter gelandet war. Mal eben nachsehen, um welches exotische Tierchen es sich da wohl handelt.
Heilige Scheiße! Mein Puls schießt auf 180, mein Körper geht sofort in die Selbstverteidigung. Nackter Überlebenswille kontrolliert meine Gedanken. Ich schlage um mich. Keine Ahnung, was für ein Teil sich da auf mir breit gemacht hat, aber es ist riesig. Man nehme eine normale Hausfliege und vergrößere sie gefühlte fünfmal. So wirkt dieses Ding auf mich. Es fliegt von meiner Schulter, macht einen weiten Kreis und bleibt auf Gesichtshöhe vor mir stehen. Mein Fleisch (oder Protein) gewordener Albtraum und ich blicken uns in die Augen. Ich bin hilflos, aber mein Körper weiß Bescheid. Meine linke Hand ballt sich zur Faust und verpasst dem Gegner einen Kinnhaken. Er strauchelt kurz und macht dann den Abflug.
Bis jetzt kann ich mir nicht erklären, warum mein Körper das für einen angemessenen Reflex hielt, aber – sehr geehrte Damen und Herren – das war meine erste Begegnung und gleichzeitig mein erster Faustkampf mit einer japanischen Zikade. Diese Insekten sind in Japan schon seit jeher bekannt und sorgen mit ihrem Zirpen, das bis zu 120 Dezibel laut werden kann, in vielen Städten für Geräusche. Auf einer Website lese ich sogar, dass dies als „Klang des japanischen Sommers“ bezeichnet wird. Sind übrigens taffe Kämpfer, diese Zikaden.
Noch etwas zittrig vom gewonnen Boxkampf verlasse ich das Hostel, um mich in Richtung See zu begeben. Den Tag über will ich das Nordufer entlang laufen und schöne Vordergründe für den Mount Fuji, der sich hinter dem See auftun sollte, zu bekommen. Mit über 3700m ist dieser Vulkan ein absoluter Gigant und eignet sich auch im Sommer für schöne Bilder – wenn auch anders als ursprünglich erhofft.
Auf dem Weg laufe ich an einem Obstladen vorbei, in dem schon ordentlich Betrieb ist. Obst wird zwar noch nicht verkauft, aber hinter der Theke spielt ein Mann lebhaft am Keyboard, während ein anderer eine japanische Version von „Country Roads“ in die Karaoke-Maschine plärrt. Ein weiterer Herr hat zwar kein Instrument mehr abbekommen, singt aber mit einer umgedrehten Plastikflasche als Mikrofon lebhaft mit. Als sie mich sehen, winken sie mir lachend zu. Da ist es noch nicht einmal 10 Uhr. Japaner und Karaoke, das ist eine ganz besondere Beziehung.
Weil der Berg sich leider bei meiner Ankunft am See hinter Wolken versteckt und seine Schüchternheit den ganzen Tag über nicht überwinden kann, wird es ein ziemlich anstrengender Nachmittag. Viel mehr als Chinesen, die in lebhaften – für unseren Geschmack absurden – Posen Fotos schießen, gibt es nicht zu bewundern. Kurz vor dem Sonnenuntergang habe ich dann aber doch noch Glück. Die Spitze des Bergs erhebt sich für kurze Zeit aus den Wolken und steht für meine Bilder Modell. Selten habe ich mich derart gefreut, eine Bergspitze zu sehen. Auch die Reflexion im Wasser ist unmöglich, aber ich bekomme trotzdem mein Bild. Außer dem Vulkan ist nichts von meinem Zielfoto geblieben. Habe ich es trotzdem erreicht? Keine Ahnung, mal Stephan Wiesner fragen.
Mein Plan sieht für den folgenden Tag eine Fahrt mit dem Highway Bus nach Mishima und eine Weiterfahrt mit dem Regionalzug nach Shizuoka vor. Dort werde ich den Tag verbringen und abends den Nachtbus nach Osaka nehmen.
Alles irgendwie leichter gesagt als getan. Dass der Regionalzug nicht gerade ein Shinkansen ist, war mir irgendwie klar. Etwas verdutzt stelle ich bei der Einfahrt aber fest, dass es sich bei diese Gefährt mehr um eine U-Bahn als um einen Regio unseres Verständnisses handelt. Beim Einsteigen bemerke ich, dass selbst die Metro eine höherklassiges Fortbewegungsmittel ist. Dort werden immerhin die Haltestellen auf Englisch angesagt und -zeigt. Im Regionalzug nicht. Irgendwie doof. Eigentlich sind solche Fälle in Japan gar kein Problem, weil alle Bahnhöfe aller Strecken durchnummeriert sind. Nur reicht es eben nicht – wie ich an diesem Nachmittag feststelle – sich die Nummer des Zielbahnhofs zu merken. Erst wenn man auch die Nummer des Starts kennt, kann man Stopps mitzählen und auf die Ansagen getrost verzichten. Ups.
Nach mehreren Haltestellen des Absuchens, ob vielleicht irgendwo am Bahnsteig verständliche Schilder sichtbar werden, entdecke ich am dritten oder vierten Halt eines, das ich aus der Metro kenne. Der Name der Haltestelle steht auf japanisch darauf. Daneben die Nummer und darunter die englische Übersetzung. Erleichtert atme ich auf.
In Shizuoka angekommen stelle ich noch etwas verwundert fest, dass Bahnführer sich hier salutieren und versuche dann, ein Schließfach für mein Gepäck zu finden. In einem Theater werde ich fündig, schließe meinen Rucksack ein und will nachfragen, wie lang das Gebäude geöffnet ist. Als ich mit „Konban Wa“ grüße und auf Englisch nachfrage, wie denn die Öffnungszeiten seien, stottert die Dame am Tresen verunsichert. Sie holt sich die Kollegin zur Seite, tauscht mit ihr ein paar Worte aus und diese verschwindet hinter einer Tür. Kurze Zeit darauf kommt sie mit einer weiteren Frau wieder heraus, die wohl die Fähigkeit besitzen soll, meine Frage zu verstehen. Sie schreibt „22:00“ auf ein Blatt Papier. Zufrieden bedanke ich mich und gehe in die Stadt.
In der Tat ist Shizuoka nicht gerade für Touristen prädestiniert. Könnte vor allem daran liegen, dass in der 700.000-Einwohner-Stadt wohl schon seit Jahren keiner mehr vorbeigekommen ist. Ist mir eigentlich ganz recht so.
Weil mein Magen knurrt betrete ich ein Lokal und bestelle wie gewohnt anhand von Bildern ein Gericht. Weil ich inzwischen absoluter Japan-Kenner und Vollprofi bin, weiß ich genau, dass es in solchen Lokalen immer Wasser oder grünen Tee kostenlos gibt. Ich sehe mich an der Theke um und entdecke zwei Plätze weiter direkt neben einem speisenden Gast eine Kanner. Na also! Kurz nach rechts gelehnt, Kanne genommen, eingeschenkt…. Da fällt mir auf, dass die Kanne auf einem Untersetzer stand. Auf den Plätzen zwischen uns stehen weitere Untersetzer – einer pro Platz – und direkt vor mir genauso. Mich überkommt ein ungutes Gefühl. Ein paar Sekunden später stellt die Bedienung eine Kanne grünen Tee auf den Untersetzer vor mir. Ich habe mich doch tatsächlich frech am Tee des Nebensitzers bedient. Ich hoffe, der Boden unter meinem Hocker bricht auf und lässt mich darin versinken. Vollprofi…
Die Reaktion meines Nachbarn auf diesen Fauxpass spiegelt immerhin japanische Umgangsformen sehr gut wider. Japaner sind geübt darin, Missgeschicke anderer zu ignorieren, um diese nicht in eine missliche Lage zu versetzen. Jeder Fauxpass ist angenehmer, wenn man das Gefühl hat, keiner habe etwas mitbekommen. Entsprechend dieser Maxime schlürft mein Nebensitzer weiter seine Suppe und tippt am Handy rum, als sei nie etwas passiert. Mir wird die Situation tatsächlich erträglicher.
Einen Nachtbus später komme ich vom peinlichen Missgeschick in die lebhafte Stadt Osaka. Hier, wo früher viele Kaufleute lebten, sind die Menschen angeblich aufgeschlossen und offen. Osaka soll eine Stadt sein, in der man viel erleben kann. Na dann mal auf ins Abenteuer!
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