Beinahe routiniert betrete ich das unauffällige Gebäude, entledige mich meiner Schuhe und gehe schnurstracks auf das vor mir liegende Fenster in der Mauer zu. Ich grüße mit „Konban Wa“ und lege kommentarlos 100 Yen auf den Tresen. Die erhöht sitzende Dame auf der anderen Seite der Öffnung nimmt das silberne Geldstück entgegen, verwahrt es und zeigt dann mit einem leichten Nicken auf meine rechte Seite. Ich danke und drehe mich in die Richtung. Langsam und ruhig gehe ich durch die Tür, die nur aus einem blauen, auf Gesichtshöhe hängenden Vorhang besteht. Dahinter finde ich wie erwartet den Umkleideraum wieder und ein paar Treppenstufen weiter unten die Erfahrung, deretwegen ich überhaupt die 15 Minuten von meinem Hostel an diesen Ort gelaufen bin. Da unten sitzen sieben Japaner in und um ein Becken herum. Sie baden still im Wasser, während einige am Beckenrand sitzen und mit einer Plastikschüssel Wasser aus dem Becken schöpfen, um es sich dann über den Körper zu leeren. Am Rand rasiert sich ein Mann sitzend vor einem tiefen Waschbecken mit Spiegel. Ich, schließe meinen Rucksack ein, entledige mich meiner Kleidung und verstaue sie ordentlich zusammengelegt in einem der bereitstehenden Körbe. Dann nehme ich mein für diesen Anlass viel zu großes Handtuch, gehe die Treppe hinab, greife mir eine Plastikschüssel und beginne ebenfalls, mich zu reinigen. Ich nehme eine Ladung der Flüssigkeit und leere sie mir über den Kopf. Mein ganzer Körper wehrt sich, als die heiße Brühe ihn kocht. Kein Wunder, denn das Wasser hat eine Temperatur von fast 45°. Mit dieser Prozedur hat mein Körper nicht gerechnet – geistlich hingegen bin ich schon lang darauf eingestellt. Ist ja schließlich bereits mein dritter Besuch in einem Onsen.
Wer Japan bereist, sollte sich auch die Zeit nehmen, ein paar Dinge aus dem japanischen Alltag zu erleben. Man braucht nicht unbedingt im Anzug in eines der zum Himmel ragenden Glasschlösser Tokios laufen und dort arbeiten, um zu erfahren, wie Japaner normalerweise leben. Manchmal reicht es schon, ihre Rituale zu beobachten und nachzuahmen. Weil mein Wunsch, Reis mit rohem Ei, wie es in Japan alltäglich ist, zum Frühstück zu essen schon von Toshihiro beim Couchsurfing erfüllt wurde, blieben noch zwei ganz große Punkte auf meiner Bucket List offen.
- In einem Thermalbad – Onsen – baden
- Eine Nacht im einem traditionellen japanischen Gästehause – Ryokan – verbringen
Beide Aktivitäten lassen sich am besten dort praktizieren, wo vulkanische Aktivitäten ganz natürlich für kochend heißes Wasser sorgen. Dafür gibt es in Japan so einige Orte – das ganze Land besteht fast ausschließlich aus Vulkaninseln – aber Beppu im Osten der Südinsel Japans – Kyushu – ist zum diesem Zweck ganz besonders prädestiniert. Unzählige öffentliche Bäder reihen sich hier aneinander und überall brodelt und dampft es. Noch dazu ist die Lage der Stadt zwischen Ozean und Bergen ganz besonders schön.
Für den stolzen Preis von 3190 Yen nehme ich also den Bus von Fukuoka nach Beppu und buche zwei Nächte in einem Hostel. Direkt nach meiner Ankunft steht mein Plan für den Abend bereits fest: eines der öffentlichen Bäder aufsuchen und das, was ich gelesen habe in der Praxis ausprobieren.
In Japan hat das abendliche Bad einen hohen Stellenwert. Einerseits dient es der körperliche Entspannung, andererseits ist es im Sinne des Shinto auch eine Art seelische Reinigung. Weil viele Einheimische in ihren eigenen vier Wänden der beengten Verhältnisse dafür keinen Platz haben, gibt es häufig öffentliche Bäder, sogenannte Sento, in denen man sich für meist 100 Yen baden und pflegen kann. Weil das ein Teil des Alltags ist, gehen viele Japaner im Yukata – eine Art gemütlicher Kimono für daheim – ins Bad und rasieren sich dort. In Orten wie Beppu, in denen von Vulkangestein aufgeheiztes Wasser durch Rohre zu den Bädern geführt wird, gibt es viele Thermalbäder – Onsen – denen nicht selten eine heilende Wirkung zugesprochen wird.
Als Tourist ist es sehr wichtig, sich vor dem Besuch mit den Regeln im Bad vertraut zu machen, um Peinlichkeiten zu vermeiden und respektvoll mit der Ehre, diesen Ort besuchen zu dürfen, umzugehen.
Wie in den meisten Innenräumen entledigt man sich am Eingang seiner Straßenschuhe. Der richtige Ort hierfür ist die Schwelle, an der der Steinboden in einen Holzboden übergeht. Normalerweise lässt eine Stufe den Besucher diese Pflicht nicht vergessen. Daraufhin zahlt man den zu entrichtenden Betrag und geht in das richtige Bad. Entgegen alter Tradition sind Bäder heutzutage nämlich nach Geschlechtern getrennt – blauer Vorhang steht für Männer, roter Vorhang für Frauen. Man entledigt sich daraufhin im Umkleideraum seiner Klamotten – komplett, denn in das Bad darf auf keinen Fall irgendein Stoff gelangen – und legt sie sorgfältig in einen der Körbe. Vor dem Baden ist es wichtig, sich zunächst zu reinigen. Je nach Ausstattung geschieht das entweder auf kleinen Hockern sitzend in einer Art Duschkabine oder mit einer bereitstehenden Schüssel und Wasser aus dem Becken. Dieser Schritt ist sehr wichtig, um die Sauberkeit des Wassers zu gewährleisten und dient auch der Vorbereitung auf das Bad. Einerseits soll sich der Körper an die Temperatur gewöhnen, andererseits ist dies eine Art psychische Vorbereitung. Wer Duschgel und Shampoo benutzt, muss peinlich genau darauf achten, dass davon nichts ins Bad gelangt. Also auch nach dem Abwaschen nochmal prüfen, dass keine Schaumreste am Körper hängen geblieben sind. Gut vorbereitet kann man nun ins Wasser steigen. Das ist mit 42°-45° extrem heiß, was den Japanern aber so gefällt. Länger als 10-15 Minuten sollte man aus gesundheitlichen Gründen nicht im Wasser verbringen. Danach empfehle ich aus persönlicher Erfahrung – falls irgendwie möglich – eine eiskalte Dusche. Das gleicht nicht nur die extreme Hitze wieder aus, sondern wirkt regelrecht belebend. Gehört aber als solches nicht zur Tradition. Dass man sich während des ganzen Prozesses ruhig verhält und möglichst nicht redet, versteht sich wohl von selbst. Dem aufmerksamen Beobachter wird auffallen, dass die Japaner selbst (zumindest die Herren, bei den Damen kenne ich mich natürlich nicht aus) mit sehr kleinen Handtüchern ins Bad gehen. Diese haben meist weniger Fläche als die, die bei uns neben Waschbecken hängen und sind recht dünn, wodurch sie schon schnell vollkommen durchnässt sind. Ins Wasser darf ein Handtuch nie, weshalb einige Männer es sich zusammengefaltet auf den Kopf legen. Wem diese Tradition zu ungeschickt ist, der darf auch ein normales Handtuch mitnehmen – Hauptsache es gelangt eben nicht ins Wasser.
Mein erstes Bad, in das ich mich in Beppu traue, ist das historische Takegaware Onsen. Es wurde im späten 19. Jahrhundert gebaut und vermittelt nostalgische Gefühle. Zu meinem Glück bin ich allein und kann mich in aller Ruhe im überraschend kleinen Raum umsehen. Vorsichtig versuche ich, die gelesene Prozedur in der Praxis anzuwenden.
Einen Tag später gönne ich mir in Yufuin – ein touristisch geprägter, aber schöner Ort ca. 30 Minuten von Beppu entfernt – ein etwas teureres Bad, das aber unter offenem Himmel stattfindet und einen schönen Blick auf den davor liegenden Garten bietet. Das Wasser ist nicht zu heiß – vielleicht 40° – was darauf hindeutet, dass es sich hier eher um ein Angebot für Besucher als um eine alltägliche Besuchsstätte handelt. Mit 800 Yen ist der Preis auch in einer anderen Dimension.
Wieder in Beppu angekommen entschließe ich mich, abends ein etwas unbekannteres Onsen zu besuchen und hoffe, dort ein wenig in den Alltag der Japaner eintauchen zu können. Aus diesem Grund bin ich auch, obwohl es sich hier vom Gebäude her zweifellos um das unattraktivste Bad meine Reise handelt, zufrieden als ich mit dem rechten Fuß zuerst im Hamawaki Onsen neben sieben Japanern ins Becken steige. Das Wasser ist nochmal ein gutes Stück heißer als das, was ich bisher erlebt habe und tangiert die Schmerzgrenze. Weil ich schon so auffällig genug bin, lasse ich mir aber nichts anmerken und steige in die dampfende Brühe. Durch die Hitze fühlt sich mein Brustbereich eingeengt an. Trotzdem will ich es wenigstens ein paar Minuten aushalten, schon allein der entspannenden Nachwirkung wegen. Als ich mich wenig später erhebe, sehe ich direkt vor meinen Augen ein Schild. Nach links geht ein roter Pfeil mit der Aufschrift „Hot“, nach rechts ein blauer Pfeil, auf dem „Warm“ steht – wohl 42°. Mein Blick wandert in die Richtung des nebenan liegenden Bads, in dem mehrere Männer sitzen. Upsi.
Am nächsten Tag – im Übrigen mein Geburtstag – besichtige ich die mit Abstand heißesten Quellen Beppus. Gut, die sogenannten „Seven Hells“ sind auch nicht unbedingt zum Baden gedacht, aber sie bieten ein spektakuläres Szenario. Eine chinesische Studentin schließt sich mir an und wir erkunden blubberndes Wasser, feuerrote Flüssigkeit, speiende Geysire und zu unser Überraschung Alligatoren, die sich in dieser Atmosphäre wohl ganz wohl fühlen. Ganz nett anzusehen, aber eben eine klassische Touristenattraktion. Es wimmelt geradezu vor chinesischen Besuchern, die wild gestikulierend mit den Fingern zu Peace-Zeichen geformt Bilder schießen.
Mein tatsächliches Tageshighlight steht abends an. Für mich ist es eine Art persönliche Feuerprobe um festzustellen, ob ich mich inzwischen ausreichend an japanische Umgangsformen gewöhnt habe, um sie tatsächlich anzuwenden. Für eine Nacht buche ich mich dort ein, wo Japaner Urlaub machen. Ein ganz traditionelles Gästehaus mit Haus-Kimono, Bad und verdammt gutem Essen. Auf geht’s ins Ryokan.
Mit meinem Handy als Navigationsgerät in der Hand laufe ich konzentriert durch die Straßen von Beppu. Ich möchte mich nicht schon beim Ankommen blamieren und muss gut darauf achten, wann ich die Schuhe am besten ausziehe. Vor einem vierstöckigen Gebäude angekommen öffne ich die hölzerne Schiebetür und werde direkt von einem jungen Mann im Polo-Shirt begrüßt. In höherpreisigen Ryokans – beziehungsweise solchen, die mehr für Einheimische ausgelegt sind und gar nicht erst Ausländer aufnehmen – hätte es sich eher um ein Zimmermädchen im hochwertigen Kimono gehandelt. Direkt an der erwarteten Stufe stehen bereits Pantoffeln in allen Größen ordentlich nebeneinander gestellt zum Reinschlupfen bereit. Ich verbeuge mich, entledige mich meiner Schuhe, schlüpfe in das größte vorhandene Paar Hausschuhe und stelle mich vor. Der Mitarbeiter reicht mir einen Yukata – eine Art Haus-Kimono, ich erwähnte ihn bereits oben – und geleitet mich zu meinem Zimmer. Dort finde ich auf Tatami-Matten einen tiefen Tisch mit zwei Stühlen und grünem Tee wieder. Ganz wie es die Tradition verlangt. Das Bett besteht nur aus einer dünnen Matratze, die auf die Tatami-Matten gelegt wird und ist bei meiner Ankunft noch im Schrank verstaut. Japanische Räume sind darauf ausgelegt, sehr flexibel einsatzbar zu sein und so gleicht mein Schlafzimmer tagsüber eher einem Wohnzimmer. Ich wechsle meine kurze Hose und das T-Shirt gegen den gemütlichen Yukata und versuche, den breite Stoff-Gürtel zu binden. Vorne eine Schlaufe machen und diese dann auf den Rücken schieben. Und den Umhang selber wie jeden Kimono links über rechts tragen – auf gar keinen Fall anders herum. So werden Tote bekleidet.
Weil noch etwas Zeit bis zum Abendessen ist, will ich ganz japanisch ein Bad im hauseigenen Onsen nehmen. Im Raum mit dem kleinen Becken bin ich alleine und kann in aller Ruhe im heißen Wasser entspannen. Eine kalte Dusche später wird das Abendessen serviert. Das Ryokan, in dem ich übernachte ist weniger für das Gästehaus, sondern eher für die fantastische Küche bekannt.
Im Restaurant angekommen setze ich mich vor den tiefen Tisch. Auf Tatami-Matten liegt ein Kissen bereit, um das Sitzen angenehmer zu machen. Vor mir tun sich roher Fisch, roher Octopus, Muscheln, Gemüse und so einige Speisen, die ich nicht identifizieren kann auf. Später werden noch Reis, gebratener Fisch, mehr Meeresfrüchte, Fleisch auf einem heißen Stein zum Selberbraten und eine Suppe dazukommen. Zum Nachtisch gibt es Früchte, eine geleeartige Fruchtspeise und natürlich grünen Tee. Das Essen weiß zu begeistern! Der dazu bestellte Sake – japanischer Reiswein – passt ganz wunderbar dazu. Als ich das Restaurant verlasse, stehen die Pantoffeln, die ich bei Reingehen entsprechend meiner Laufrichtung ausgezogen habe umgedreht, um ein komfortables Reinschlüpfen zu ermöglichen vor der Tür. Im Zimmer angekommen wurde der Tisch ein wenig zur Seite geschoben und auf den Tatami-Matten finde ich mein gemachtes Bett vor.
Abends entschließe ich mich zu einem Spaziergang und laufe fröhlich pfeifend am dunkeln Strand Beppus entlang. Irgendwo schießen wieder Jugendlichen Feuerwerke in die Luft. Nach meiner Rückkehr noch einen grünen Tee und ein heißes Bad und ich schlafe glücklich auf meiner Matratze auf den Tatami-Matten ein.
Das Frühstück ist ähnlich spektakulär wie bereits das Abendessen. Wieder entdecke ich viele Meeresfrüchte auf dem Tisch. Rohes Ei auf Reis wird zwar nicht serviert, aber ich esse mich trotzdem genüsslich durch das Beste, was die japanische Küche mir auf meiner Reise präsentierte. Die Frage, ob ich einen Kaffee wolle, lehne ich dankend ab. Grüner Tee genügt zu meiner Zufriedenheit. Immer wieder kommt eine ältere Dame aus der Küche – vermutlich die Köchin – und fragt mich, ob mir das Essen schmeckt. Zumindest ist das meine Vermutung, denn ich werde auf Japanisch angesprochen. Lächeln und nicken. Zum Abschluss des Abenteuers noch ein Bad und ein Wort des Danks. Yukata aus, T-Shirt an. Ich schlüpfe wieder in meine gewohnte Rolle des Backpackers und fahre mit dem Bus zurück nach Fukuoka. Glücklich und stolz schaue ich auf die an mir vorbeifliegende Landschaft. Zwei Wochen nach meinem ersten Bericht „I’m a legal alien“ fühle ich mich in Japan angekommen.
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