Habe ich tatsächlich vom Metropolitan Government Building in Tokio berichtet, man überblicke eine Stadt, die niemals endet? Lichter, die bis an den Horizont reichen? Eine unzählbare Anzahl an Gebäuden? Tja, damals hatte ich noch keine Ahnung, dass ich diese Aussicht nochmal haben würde. Nur in einer anderen Stadt und ganze 700m weiter oben.
Eigentlich wollte ich Kobe nur für einen Tag besuchen, aber weil zwei Nachtbusse hintereinander doch eine relativ anstrengende Erfahrung sind, entschied ich mich, eine Nacht in der Stadt zu bleiben. Durch meine Ankunft um 6 Uhr morgens und die Abfahrt am Folgetag um Mitternacht resultierte die eine Übernachtung effektiv in zwei Tagen. Eigentlich zu lang für eine Stadt, die dem interessierten Besucher nicht viel mehr als Sightseeing zu bieten hat.
Kobe zeichnet sich hauptsächlich durch zwei Aspekte aus: einerseits gibt es hier das teuerste Fleisch der Welt zu kaufen, andererseits prägen Einwandererviertel die Stadt. Vor allem Letzteres sollte eigentlich eine spannende Atmosphäre mit sich ziehen – man denke an durch verschiedene Kulturen geprägte Städte wie New York oder Berlin – aber das Chinatown Japans ist heutzutage nur noch eine einzige Touristenattraktion und die europäische Architektur der von westlichen Einwanderern gebauten Häuser anderer Stadtviertel vermögen vielleicht dem asiatischen Beobachter interessant erscheinen, sind aber für einen Europäer nicht wirklich spannend. Wenn ich italienischen Kaffee trinken und deutschen Käsekuchen essen will, brauche ich wirklich nicht nach Japan fliegen.
Darüber hinaus bietet Kobe immerhin schönes Sightseeing. Eine 10-minütige Zugfahrt führt zur längsten Hängebrücke der Welt, gegen die die Golden Gate Bridge in San Francisco rein größentechnisch wie ein Spielzeug wirkt. Das massive Erscheinungsbild der mehr als 3 Kilometer langen Brücke wirkt tatsächlich vor allem bei Nacht beeindruckend. Die beiden Träger sind mit über 280 Metern hoch genug, um in den meisten deutschen Städten sämtliche Gebäude bei Weitem zu überragen. Das stählerne Geschöpf mutiert zu einer Demonstration japanische Bauingenieurskunst. Und das mitten in einer Erdbebenregion!
Kobe ist auch von vielen Kaufhäusern und Malls geprägt. Vor allem chinesische Touristen gelten hier als durchaus käufkräftiges Klientel, aber als Rucksacktourist habe ich wenig Interesse an Gucci und Prada. Weil der schnellste Weg zwischen Orten aber durchaus mal durch Kaufhäuser führen kann – diese sind übrigens ähnlich wie in Hong Kong durchaus durch Brücken miteinander verbunden – erlebe ich auch japanische Malls hier und da von innen. In einer zieht eine große Menschenmenge meine Aufmerksamkeit auf sich. Bei genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass es sich quasi ausschließlich um Mädchen im Teenager-Alter handelt und ein großes Plakat mit dem Bild einer Boygroup aufgehängt ist. Darüber ein paar japanische Schriftzeichen, der Name der Band „One N Only“ und in arabischen Ziffern die Uhrzeit des Auftritts: 13.30. Ich schaue auf mein Handy, stelle fest, dass es erst 11.30 ist und beschließe, in zwei Stunden zurückzukommen, um zumindest einen Teil der Show zu sehen. Die Musik interessiert mich nicht wirklich, aber mal eine Boygroup gesehen zu haben, gehört einfach zu einer Japanreise dazu. Während das Konzept bei uns eher den frühen 2000ern angehört und fast ausgestorben ist, hat es in Japan Hochkonjunktur. Nur, dass die Musik mit Krach noch sehr wohlwollend umschrieben ist. Gegen One N Only sind die Backstreet Boys Mozart und verglichen mit den zarten, kindlichen Gestalten auf der Bühne wirkt der knuffige Tom Kaulitz zu Zeiten des Erfolgs eher wie Udo Lindenberg mit Dreadlocks. Die Auftritte sind allgemein von Tanzeinlagen der jeweiligen Band geprägt – mich erinnert das eher an eine Art unkoordiniertes Rumgehopse. Vor der Bühne stehen hunderte Schulmädchen und kreischen, sobald ihr Lieblingsmitglied der Band seinen Teil des Lieds singt. In Japan gibt es durchaus gute Musik – gerade japanische Schlager – aber Boygroups gehören dem ganz bestimmt nicht an.
Nach zwei Liedern, die voneinander kaum zu unterscheiden sind, ziehe ich weiter. Ich möchte noch ein bisschen durch die Stadt schlendern, bevor ich abends das absolute Highlight Kobes besuche: Eine Aussicht über die zweitgrößte Metropolregion Japans, die mit dem offiziellen Begriff „Million Dollar Night View“ ganz ordentlich umschrieben ist. Statt wie in anderen Städten in schnellen Aufzügen hohe Gebäude zu besuchen bietet Kobe durch das geographische Format der Stadt als schmales Band zwischen dem Meer und den Bergen die Möglichkeit, letztere zu erklimmen und von einer weitaus höheren Höhe einen Blick über die tausenden Lichter der Stadt zu bekommen. Wer nicht gerade einen Wandertag einlegen möchte – so wie etwa ich – kann mit Zahnradbahn und Gondel ganz gemütlich und schweißlos die knapp 700m zum Mount Maya hinter sich bringen. Oben erwartet den Besucher die Aussichtsplattform Kikuseidai, die sprachlos werden lässt. Hinter dem dünnen Streifen der Stadt tut sich das nachts pechschwarze Meer auf und Richtung Osten versinkt die Dunkelheit in einem Meer aus Lichtern. Wo Kobe aufhört und Osaka beginnt ist nicht erkennbar – viel mehr wirkt die ganze Region wie eine einheitliche Masse unendlich vieler kleiner weißer Punkte. Eine Aussicht, die auf erstaunlich nüchterne Art symbolisiert, was Kobe dem Besucher zu bieten hat – Sighsteeing vom Feinsten. Aber eben irgendwie auch nicht mehr.
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