Die Triple 7 gleitet hinab, den fernen Lichtern der Stadt entgegen. Gespannt beobachte ich auf der Videokamera den Anflug. Kurz bevor ich denke, das Flugzeug lande im Wasser, machen wir plötzlich eine enge Linkskurve und vor uns wird die Landebahn sichtbar. Endanflug ins Abenteuer. Noch 200 Fuß. 100. 50, 40, 30, 20, 10 – Welcome to Tokyo!
Als ich im mittleren Gymnasialalter war, versuchte uns eine Lehrerin bildlich zu erklären warum sich ältere Menschen in unserer modernen, schnellen Zeit schwertun. Sie bat uns, die Augen zu schließen, uns vorzustellen, wir verreisten ohne Ziel und die Augen wieder zu öffnen. Mein Blick wanderte über die Köpfe meiner Mitschüler hinweg zum Projektor. Auf der Projektionsfläche hatte sie ein Bild aufgelegt. Schier unendlich hohe Gebäude waren darauf zu sehen, davor riesige Reklametafeln mit eigenartigen Figuren und einer Schrift, die uns allen unbekannt war. Auf der Straße sah man unzählige Menschen, die alle ein Ziel zu haben schienen. Nur der Beobachter wurde verwirrt allein gelassen. Unsere Lehrerin hatte uns ein Bild von Tokio gezeigt. Schöne Scheiße!
Während meines Flugs hatte ich ausreichend Zeit, viel über Japaner und ihre Kultur zu lesen. Ich bin verwirrter als zuvor. Verbeugen, aber nicht zu oft. Auch irgendwie nicht zu lang, aber auf gar keinen Fall zu kurz. Vor dem Betreten die Schuhe ausziehen und in die bereitgestellten Pantoffeln schlüpfen. Am Wichtigsten: Gegenseitigen Respekt aufrechterhalten und den anderen niemals das Gesicht verlieren lassen. So weit ganz übersichtlich? Dachte ich mir auch. Kurz vor der Passkontrolle packt mich die Panik. Verbeuge ich mich jetzt vor dem Beamten? Und wie lang soll das sein? Was heißt eigentlich nochmal „Guten Abend“ auf Japanisch? Und „Danke“? Wo ist mein scheiß Zettel mit meinen Aufschrieben?
„Good evening, sir. You’re passport please.“ Also gar keine Verbeugung. Vor Überraschung kippe ich fast um.
Weil mein Flug kurz vor Mitternacht gelandet war und so spät keine Metro mehr den Flughafen Tokio-Haneda verlässt, bin ich gezwungen, den Airport Shuttle zu nehmen.
Zu meinem eigenen Glück bleibt mir das Chaos, das bei einer spontanen Bahnfahrt wohl unumgänglich gewesen wäre erspart. Nach mehreren Anläufen – GPS funktioniert in den engen Gebäudetälern Tokios übrigens denkbar schlecht – finde ich kurz vor halb 3 tatsächlich mein Hostel, checke ein und falle nach über 24 Stunden Reisen müde ins Bett.
Mein erster Tag in der Megametropole ist geprägt von meiner allseits bekannten Spontanität. Ohne auch nur im Ansatz eine Ahnung von der Stadt zu haben, ziehe ich einfach mal los und erkunde die Gegend um mein Hostel. Glücklicherweise stellt sich heraus, dass Asakusa tatsächlich zu den eher interessanten Gegenden Tokios gehört. Das alltägliche Leben auf der Straße erinnert mich ein klein wenig an Brooklyn. Überhaupt scheint die Stadt diverse Parallelen zu New York zu haben. Und zu Los Angeles – zumindest was die Fragmentierung der Stadtteile angeht.
Ich beobachte die Japaner und ihren Umgang miteinander. Keine Verbeugungen zu sehen. Stattdessen fällt mir eine Besonderheit auf. Keiner der Einheimischen scheint eine Sonnenbrille zu tragen. Ich trage eine. Ich falle auf. Um nicht mehr aufzufallen, ziehe ich sie ab. Die Sonne blendet. Ich kneife die Augen zu. Ich falle nicht mehr auf.
Ganz zufällig passiere ich einen Tempel und sehe viele Menschen, Geldmünzen in hohem Bogen in einen Behälter werfen und sich daraufhin verbeugen. Wohl ein religiöses Ritual. Das Prozedere wird wenige Meter weiter an einem weiteren Behälter wiederholt. Vielleicht gibt es deshalb keine Bettelmönche in Japan?!
Auf meinem Weg passiere ich noch ganz nebenbei einen Turm, der ein bisschen wie eine überdimensionierte Version des Stuttgarter Fernsehturms aussieht.
Mal aus der Nähe ansehen – vielleicht kann man ja hoch. Kann man – für knappe 30€. Also doch lieber von unten anschauen, das Teil. Sieht ja ganz nett aus, aber die Gebäude in Tokio hätte ich mir dann doch ein bisschen höher vorgestellt. Glücklicherweise gibt es neben dem Turm WiFi und ich habe die Möglichkeit, ein bisschen was über ein zu recherchieren. Tokyo Skytree heißt das gute Ding. 634 Meter hoch, zweithöchstes Gebäude der Erde. Ups, dezent verschätzt.
Ich laufe noch ein bisschen hier und da durch die Gegend und bin beeindruckt von der Menge an Parks, die diese Stadt bietet. Tokio wirkt auf den ersten Blick überhaupt nicht wie die verrückte Großstadt, die man allgemein im Kopf hat. Es gibt viele Orte, um Ruhe und Besinnlichkeit zu finden und ständig stößt man auf Gärten mit Tempeln oder architektonisch tempelähnlichen Gebäuden.
Darüber hinaus ist die Stadt sehr ruhig – für das größte Ballungszentrum der Welt überraschend. Dass Japaner nicht gerade die Hektik in die Wiege gelegt bekommen ist bekannt, aber auf der Straße scheinen sich die meisten Menschen eher im Flüsterton zu unterhalten und die leisen Motoren der effizienten Toyotas unterstützen den Eindruck.
Gegen Abend bekomme ich Hunger und laufe in einen kleinen Laden. Es scheint nur Süßwaren zu geben, also entscheide ich mich – ich bin immerhin noch vom Mittagessen ganz gut gefüllt – dafür, japanische Desserts zu probieren. Es gibt Schokopudding und irgendwelche Teigwaren – irgendwie habe ich mir Spannenderes erhofft. Auf einmal blicken meine Augen in die mittlere Reihe des Kühlregals und entdecken eigenartige weiße Kugeln in einer Art braunen Soße. Die gesamte Beschreibung ist auf japanisch – super, das probiere ich. Hoffentlich sind es keine Eier einer seltenen Vogelart. Bis heute weiß ich nicht, was ich da gegessen habe. Ich will es auch gar nicht wissen. Es hat geschmeckt.
Am nächsten Morgen entscheide ich mich, Tokio ein bisschen weiter zu erkunden und kaufe mir eine Karte für die Metro. Der Kaiserpalast steht auf dem Programm – Sightseeing für Touristen. Die Metro ist irgendein Zwischending aus furchtbar kompliziert – dann, wenn keine englische Übersetzung auf dem Plan steht – und irgendwie ganz übersichtlich. Zwar hat jede Station mindestens sechs Ausgänge, die alle kilometerweit voneinander zu liegen scheinen, aber das ist ja durchaus auch in anderen Städten so. Ich verlasse also die U-Bahn an der Station Tokyo und fahre mehrere Rolltreppen nach oben, um wieder ans Tageslicht zu kommen. Die japanische Disziplin beeindruckt – links wird gestanden, rechts gelaufen. Niemand verstößt dagegen.
Oben angekommen zeigt sich Tokio in einem ganz anderen Gesicht als gestern. Mich umgeben im Gegensatz zu den doch recht niedrigen Häusern Asakusas gläserne Wolkenkratzer schier unendlicher Anzahl. Erinnert an Manhatten, ist aber irgendwie viel moderner. Mittendrin ein riesiger Park und der Kaiserpalast. Was für eine Stadt!
Den Abend verbringe ich in Shibuya an der weltbekannten Shibuya 109 Kreuzung. Wenn es ein Bild, für das Tokio bekannt ist, dann ist es das Gewusel hunderter (vielleicht auch tausender) Menschen, die durcheinander drei Straßen passieren. Ich mittendrin.
Wie fühle ich mich nach zwei Tagen Tokio? Naja, wir alle kennen das Bild japanischer Reisegruppen in Heidelberg oder München. Menschen, die unbeholfen in der Gegend umherstarren und nicht so richtig wissen, was sie tun sollen. Ungefähr so muss ich auf die Leute hier wirken. Die meiste Zeit versuche ich zwar, mich als stiller Beobachter zurückzuhalten, aber ab und an ist man einfach gezwungen, in Aktion zu treten. Und dann passiert es eben, dass man am Bahnhof durch die falsche Schranke läuft und verdutzt vor verschlossenen Türen steht. Dass man vor befremdlichen Automaten steht, ohne auch nur im Ansatz eine Ahnung zu haben, wie man sie bedient. Dass man sich das Soja in die Nudeln kippt, statt selbige darin zu tunken. Dass man Dinge fotografiert, die für jeden Einwohner alltäglich sind. Dass man anders ist.
I’m an alien, I’m a legal alien,
I’m an Englishman in New York.
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