Du sitzt in einer Bar mitten in Kyoto, Japan. Dir gegenüber zwei Amerikaner aus Los Angeles, die du vor gut zwei Stunden kennengelernt hast. Einer davon spricht eine Japanerin an, die sich zu euch gesellt. Sie spricht nicht viel Englisch, bemüht sich aber mit wenigen Brocken am Gespräch teilzunehmen. Irgendwann kramt sie eine Plastikbox mit weißen Pillen aus ihrer Jackentasche. Zitronenbonbons – laut ihr. Die drei verbleibenden weißen Objekte bietet sie euch an. Deine amerikanischen Bekanntschaften nehmen sie ohne zu fragen und werfen sie sich ein. Du lehnst dankend ab. Den Braten riechend verleiht die Japanerin ihrer Bitte Nachdruck. Sie sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, unbedarften Touristen unter falschem Vorwurf Drogen einzuflößen. Die Amerikaner schauen dich ebenfalls auffordernd an – eine Ablehnung kommt jetzt einem Misstrauensvotum und einer Beleidigung der Dame gleich. Ungläubig starrst du auf die Pille in deiner Hand. Dein Kopf berechnet eine Risikoabwägung. Du stehst jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Was tust du? Go!
Die letzte Station meiner Reise führte mich ins kulturelle Zentrum Japans. Jene Stadt, die lange Zeit Hauptstadt des Inselstaats war und eine derart enorme Bedeutung für das Land hat, dass selbst die Amerikaner im zweiten Weltkrieg Kyoto von einer Liste potentieller Ziele für Atombombenangriffe strichen, um das kulturelle Erbe zu schützen. Eine Stadt, die von Schreinen und Tempeln geradezu überfüllt ist.
Die Anreise hingegen war wieder mal eher als Seitenhieb des modernen Japans zu betrachten. Im Bewusstsein, dass mir eine kurze Nacht bevorstünde stieg ich um halb 1 nachts in Hiroshima in den Nachtbus. Dass Busfahrer zu Beginn einer Fahrt die Gäste willkommen heißen und durchaus mehr erzählen als ein spanischer Pilot auf einem Flug von Miami nach Madrid, wusste ich schon längst. Dieses Mal hatte ich mir vorgenommen, einen Blick auf die Uhr zu werfen und zu messen wie lang eine solche Rede tatsächlich geht. Kommt es mir vielleicht nur lang vor, weil ich nichts verstehe? Nun gut, zuerst die maschinelle Stimme. Erst auf Japanisch, dann auf Englisch und im Anschluss auf Mandarin und Koreanisch. Herzlich Willkommen, bitte anschnallen, nicht Rauchen und so weiter. Danach meldet sich wie gewohnt der Meister des Gefährts zu Wort und richtet ein paar persönliche Worte an seine geschätzten Gäste. Er begrüßt, stellt sich vor, beschreibt die geplante Route, informiert über das Wetter am Ankunftsort, zählt Anschlussmöglichkeiten auf, gibt Hoteltipps, präsentiert eine Auflistung seiner persönlichen Lieblingsorte in den Städten und endet mit einer persönlichen Einschätzung zu den letzten Resultaten der japanischen Rugby-Nationalmannschaft kurz vor der bevorstehenden WM im eigenen Land. Natürlich verstehe ich kein Wort, von all dem, was er erzählt, aber anders kann ich es mir nicht vorstellen, wie die ganze Prozedur auf die rekordverdächtige Länge von 24 (!) Minuten kommt.
In Kyoto angekommen lagere ich meinen Rucksack im Hostel und laufe planlos los. Ganze 10 Minuten später finde ich mich in einem buddhistischen Tempel wieder. Auch wenn Japaner religiös häufig mit dem Zen-Buddhismus in Verbindung gebracht wird, hat sich Shinto als vorherrschende Religion durchgesetzt. Der Grund liegt wohl darin, dass erstere dem Gläubigen vieles abverlangt. Im Sinne des Buddhismus zu leben ist nicht ganz einfach – Verzicht auf materielle Güter steht recht weit oben auf der Liste der Prioritäten und das mag den Japanern so gar nicht schmecken. Shinto hingegen ist eine viel simplere Religion. Wer einen Schrein aufsucht, betet an den dort lebenden Gott. Dabei ist es wichtig, seine Aufmerksamkeit zu bekommen, was als wesentlicher Bestandteil des Gebets gilt. Zunächst wirft man ein Geldstück (meist 100 Yen) in einen Kasten und klatscht dann zwei Mal in die Hände. Das soll den Betenden ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Nach einer Verbeugung – die japanische Etikette macht auch in der Religion nicht Halt – wird das eigentliche Gebet gesprochen. Daraufhin folgt noch die Verbeugung zur Verabschiedung und der Segen ist dem Gläubigen gewiss. Viel mehr Verpflichtungen gibt es in dieser Religion nicht.
Doch Kyoto ist nicht nur das Zentrum der Tempel und Schreine, in Kyoto findet sich auch die größte Anzahl Gaishas wieder. Die weiß bemalten Damen in teuren Kimonos werden in Europa gerne mal als Prostituierte des historischen Japans angesehen.
Tatsächlich hat die Kunst der Gaishas überhaupt nichts mit Erotik zu tun. Viel mehr handelt es sich um kulturell besonders bewanderte Damen, die die komplizierte japanische Etikette zur Vollständigkeit beherrschen, die Teezeremonie durchführen können, klassische japanische Instrumente beherrschen und zu gehobenen Unterhaltungen fähig sind. All dies wird in einer schwierigen, 5-jährigen Ausbildung gelehrt. Die Künste einer Gaisha tatsächlich in einem der vielen Teehäuser in Gion, einem Stadtviertel Kyotos, zu sehen ist für einen Touristen kaum bis gar nicht möglich. Weil hier auch an die Gäste hohe Anforderungen gestellt werden, kommen selbst Japaner nur mit Bürgschaft durch einen bekannten Kunden in diese Etablissements – Ausländern dürfte der Eintritt weitestgehend untersagt werden, um Peinlichkeiten zu vermeiden. So bleibt dem Ausländer nur die Möglichkeit, zwischen den Teehäusern abzuwarten und die zu Terminen eilenden Gaishas zu beobachten. Schon die Zielstrebigkeit des Gangs wirkt dabei beeindruckend.
Natürlich hatte ich mich vor der Kyoto-Reise nicht bezüglich Sehenswürdigkeiten der Stadt informiert, sodass ich das Stadtviertel Gion gar nicht erst gefunden hätte. Glücklicherweise spreche ich auf einer meiner täglichen Fototouren einen anderen Reisenden an, der bei der Komposition einer Pagode die gleichen Probleme wie ich zu haben scheint. Er stellt sich als allein reisender amerikanischer Hobbyfotograf raus – im Grund das gleiche Konzept wie meine eigene Person, nur mit besserer Ausstattung und wesentlich mehr Talent. Sid hatte schon die letzten paar Abende in Gion verbracht und versucht, sein Zielfoto zu schießen. Eine Gaisha, die gerade in eines der vielen Teehäuser geht, vom Licht des Inneren angestrahlt gegenüber der dunklen Nacht hell erleuchtet wird und bereits beginnt, die Schiebetür hinter sich zu schließen. Auf der Suche nach dem glücklichen Zufall, dieses Motiv tatsächlich vor die Linse zu bekommen, hatte er durchaus schon einige Bilder der Künstlerinnen bekommen. Jedes davon so gut, dass ich es locker als mein Zielfoto für die ganze Reise hätte durchgehen lassen. Zwei Abende lang streifen wir gemeinsam durch die Gassen Kyotos und Sid zeigt mir seine Lieblingsspots der Stadt. Während wir uns über künstlerische Aspekte der Fotografie unterhalten streifen wir durch enge Gassen, in denen Gruppen Einheimischer ihren wohl verdienten Feierabend in kleinen Bars rechts und links des Weges feiern. Sids Aufmerksamkeit und sein Blick für interessante Situationen faszinieren mich. Teilweise bricht er Sätze mitten im Wort ab, dreht sich zur Seite zückt seine Kamera und ehe ich die Szene überhaupt sehe hat er schon ein Bild des rauchenden Mannes, dessen Zigarettenqualm im Licht der Bar hell erleuchtet wirkt geschossen. Hier noch eine Gaisha, die heimlich an uns vorbeizieht, dort ein Taxifahrer, dessen Gesicht vom Licht des Handys angestrahlt wird. Schon Sid beim Fotografieren zu beobachten ist eine Erfahrung – Sightseeing mal ganz anders.
Kyoto bleibt in meiner Erinnerung als eine Stadt, in der ich durchaus einiges erlebt habe. Von einem wirklich guten Fotografen lernen, mich mit einem Japan stationierten US-Navy Offizier über Herausforderungen der Globalisierung unterhalten, so viel rohen Fisch wie nie zuvor essen, Gaishas sehen und Pagoden ohne Ende vor die Linse bekommen. Und dann war da ja noch die Sache mit dem Zitronenbonbons.
Einem Dilemma ausgesetzt muss ich auf die Schnelle eine Lösung für meine bedrückende Situation finden. Einerseits möchte ich das Risiko, ungewollt LSD zu schlucken auf ein Minimum reduzieren, andererseits gebührt es der Respekt der Japanerin gegenüber, ihr keine Täuschung vorzuwerfen. Kurzerhand werfe ich die Pille in meinen Mund, verstecke sie unter meiner Zunge, versuche dabei möglichst wenig von dem Zeug zu schlucken und nutze einen Moment der Unaufmerksamkeit, um sie wieder in meine Hand zu befördern und sie kurze Zeit später im Klo runterzuspülen. Der Abend verläuft ohne weitere Geschehnisse – beide Amerikaner bleiben ganz normal. Es waren tatsächlich nur Zitronenbonbons.
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