Paul Tibbets muss an diesem Morgen wohl ziemlich erleichtert gewesen sein – anders kann ich mir seinen Gemütszustand gar nicht vorstellen. Es hätte so viel schief gehen können, aber ohne weitere Komplikationen hatten er und Enola Gay es bis hierher geschafft. Gleich würde er in die Geschichtsbücher eingehen. Wenn auch unter zweifelhaftem Ruhm. Er selbst wird nie einen Fehler in der bevorstehenden Tat sehen, wird nie Reue dafür zeigen. Er muss einfach nur erleichtert gewesen sein, weil er nach seinem Verständnis auf dem Weg war, das Richtige zu tun. Um 8 Uhr 15 und 17 Sekunden ließ er Little Boy von seinem B-29-Superfortess-Bomber, dem er den Namen seiner Mutter Enola Gay gab, fallen. 45 Sekunden später, am 06. August 1945 um 8 Uhr 16 verwandelte der erste Atombomben-Angriff der Menschheitsgeschichte die japanische Stadt Hiroshima in ein Grab für tausende Zivilisten.
Jiro Mitsuda ist damals 12 Jahre alt und auf dem Weg in die Temma Elemtary School. Noch bevor er ankommt, explodiert Little Boy in einer Höhe von ca. 600m. Die Explosion wirkt wie ein Stern, dem man zu nah gekommen ist. Ein helles Licht, das Menschen das Augenlicht raubt erstrahlt gefolgt von einer Hitzewelle, die im Epizentrum der Explosion mehrere tausend Grad erreicht. Die Druckwelle ist so stark, dass ganze Gebäude weggerissen und deformiert werden. Jiros Haut verbrennt und trennt sich vom Körper. Mit herunterhängenden Hautfetzen und nur einer Hose bekleidet erreicht er weinend sein Zuhause. Auf der Türschwelle sieht er seine Mutter zusammenbrechen. Sie landet in einer Lache aus Blut. Der Junge bittet einen Nachbarn: „Mir ist egal, was mit mir passiert. Helfen Sie meiner Mutter!“ Trotz seiner schweren Verletzungen löscht er darauf ein Feuer im ersten Stock. Die Mutter überlebt. Jiro erliegt am 11. August unter Schmerzen seinen Wunden. Bis Ende 1945 werden 140.000 weitere Menschen als Folge des Angriffs den Tod finden.
Aufgelöst stehe ich vor der Vitrine im Hiroshima Peace Memorial Museum und schaue auf die Hose von Jiro Mitsuda. Meine Augen sind feucht, mein Blick leer. Um mich herum hört man immer wieder Schluchzen. Die Einzelschicksale berühren, sie nehmen mit. Es war mir ein persönliches Anliegen, in diese Stadt zu kommen. Ich wollte wissen wie die Japaner mit dem Angriff umgehen.
Heute Morgen um 6 Uhr hat mich ein Nachtbus aus Kobe kommend am Hauptbahnhof abgesetzt. Weil ich erst 2 Stunden später mein Gepäck im Hostel abgeben kann, gehe ich in den nächsten 7-Eleven, kaufe mir ein süßes Stück und einen Kaffee, setze mich und hole mein Handy raus. Ich erwarte, dass mir hier eine Verzeichnung von Geschichte und Politik präsentiert wird, also recherchiere ich im Voraus. Ich lese mich in die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki ein, in die Bombardierung Tokyos, in Pearl Harbor und in die japanischen Kriegsverbrechen auf chinesischem Territorium. Auch wenn ich nur beobachten will, muss ich mir eine Meinung bilden. Also suche ich nach Rechtfertigungen für die Angriffe und nach Beschuldigungen.
Als ich in der Stadt ankomme, besuche ich sofort den Peace Memorial Park. Auf der Nordzunge einer Insel zwischen dem Honkawa Fluss und dem Motoyasugawa Fluss haben die Japaner hier einen ganzen Park geschaffen, der der Erinnerung und Aufklärung der Ereignisse dient. Der Umgang überrascht. Statt der erwarteten politischen Abrechnung finde ich Gedenkstätten für die Opfer wieder. Im Museum werden die Geschichten der Zivilbevölkerung erzählt, die Erfahrungen der Katastrophe geteilt. Kein Wort über Schuldzuweisungen.
Dabei hat Hiroshima allen Grund, anzuklagen. Japan mag ein Täter des Kriegs sein, Hiroshima ist ein Opfer. Doch Hiroshima klagt nicht an. Hiroshima erinnert. Hiroshima mahnt. Hiroshima will nicht teilen, Hiroshima will vereinen. Die Stadt erzählt ihre Geschichte, sie lässt die Leidenden zu Wort kommen. Sie will verhindern, dass sich derartige Angriffe jemals wiederholen. Eine Erinnerungskultur, die beeindruckt.
Trotz diesem starken Umgang einer Stadt mit ihrem harten Schicksal muss man ein Wort über den japanischen Umgang mit den eigenen Kriegsverbrechen verlieren. Im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg wurden Menschenrechte von der militärischen Macht Japans quasi außer Kraft gesetzt. Das Massaker von Nanjing forderte in wenigen Wochen bis zu 300.000 Todesopfer. Misshandlungen, Vergewaltigungen, wahlloses Morden. All dieser Verbrechen machten sich die Besetzer schuldig. In Europa fand dieser schreckliche Krieg, der schon 1937 begann und nach Pearl Harbor als Pazifikkrieg Teil des Zweiten Weltkriegs wurde kaum Beachtung. Auch Japan verdrängt nur allzu gern die dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit. Eine Aufarbeitung findet in der heutigen Bevölkerung kaum statt. Japanische Geschichtsbücher erzählen von der Disziplin der Samurai, der Modernisierung während der Meiji-Restauration und der Rückkehr des Kaiserreichs. Denkmäler für die Opfer japanischer Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg ähnlich dem Holocaust Mahnmal in Berlin habe ich nicht gefunden – es würde mich nicht überraschen, wenn es dazu keine gibt.
Als Folge des Umgangs Japans mit den geschlagenen chinesischen Städten verhängten die Vereinigten Staaten weitgehende Embargos gegen das Kaiserreich. Darunter auch ein Ölembargo, das die Ölimporte Japans um 75% reduzierte. Um die Versorgung des Lands sicherzustellen, wollte man die südpazifischen Inseln erobern und auf die dortigen Ölreserven zurückgreifen. Dass es sich hierbei um Kolonien des Vereinigten Königreichs und der Niederlande handelte, spielte keine Rolle. Die Niederlande hatten zur entsprechenden Zeit kaum eine nennenswerte Streitkraft und die Briten waren mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und der Aufrüstung der Flotten Deutschlands und Italiens zu beschäftigt, um Schiffe in den Pazifik zu entsenden. Basis des Angriffs sollten die Philippinen sein – halbautonome Kolonie der USA. Um ein Eingreifen der Staaten zu verhindern, entschloss Japan sich dazu, die Pazifikflotte der US Navy möglichst weitgehend zu zerstören und Stützpunkte im Pazifik zu bombardieren. Am 07. Dezember 1941 griff Japan ohne Ankündigung Pearl Harbor an und versenkte fast alle im Pazifik stationierten Schiffe der USA. Die von diesem Angriff ebenfalls überraschten Deutschen und Italiener erklärten kurz danach Amerika den Krieg – aus einem Europäischen und einem Asiatischen Krieg wurde ein Weltkrieg. Die USA drangen Japan im Laufe des Kriegs durch die Taktik des Inselhüpfens bis kurz vor das Festland zurück und hatten zum Zeitpunkt der deutschen Kapitulation den Gegner quasi geschlagen. Dabei wurden bis auf zwei zerstörte Boote sämtliche in Pearl Harbor versenkten Schiffe eingesetzt – sie konnten problemlos vom Boden des Hafenbeckens gehoben und repariert werden. Militärisch hatte Japan kaum noch Möglichkeiten, den Krieg zu gewinnen, weigerte sich aber, bedingungslos zu kapitulieren. Die Hoffnung war, mit der Sowjetunion, mit denen noch bis Anfang August 1945 ein Nichtangriffspakt bestand, einen besseren Friedensvertrag schließen zu können. Der Plan der Alliierten hingegen sah den Kriegseintritt der UDSSR im August vor. Kurz vor dem Ablauf des Pakts änderte sich aus amerikanischer Sicht die Lage, weil das Manhatten-Projekt erfolgreich zwei einsatzfähige Atombomben hervorgebracht hatte. Eine Landung auf japanischem Festland stand von Anfang an außer Frage, weil die menschlichen Verluste als unverhältnismäßig hoch eingeschätzt wurden. Schon die Eroberung der kleinen Insel Okinawa kostete fast 120.000 Soldaten – die meisten davon japanisch – und vielen Zehntausend Zivilisten das Leben. Ein Einschreiten der Sowjetunion – der ursprüngliche Plan – würde nach der Kapitulation territoriale Ansprüche der Russen mit sich bringen. Durch die Atombomben hingegen könnten die USA die Kapitulation ohne eigene Verluste und territoriale Ansprüche Russlands beenden. Am 06. August 1945 traf die erste Atombombe Hiroshima. Zwei Tage später erklärte Russland Japan den Krieg und bereitete über eine Millionen Soldaten vor. Am Folgetag wurde Nagasaki durch eine weitere Atombombe zerstört. Am 15. August verkündete Kaiser Hirohito, dessen Stimme die japanische Zivilbevölkerung noch nie zuvor gehört hatte, die Kapitulation Japans. Ob die Abwürfe der Atombombe oder der Kriegseintritt Russlands zu dieser Entscheidung geführt haben, ist bis heute Teil einer historischen Debatte.
Kurze Zeit später erreichen erste amerikanische Soldaten die Stadt und dokumentieren den katastrophalen Zustand, den sie dort vorfinden. Ein Panorama-Bild zeigt das ganze Ausmaß der Zerstörung. Nur wenige Mauern, die direkt unter dem Epizentrum waren, konnten dem Druck stand halten – vermutliche weil die Welle sie direkt von oben traf. Inmitten der Ruinen steht ein Bogen, der zu einem Schrein führt – einsam, verloren. Das einzige Gebäude, das heute noch die Folgen der Katastrophe zeigt, ist der sogenannte A-Bomb Dome. Er war nur 100 Meter vom Explosions-Zentrum auf dem Boden entfernt und behielt die Struktur seiner Kuppel. In der Peace Memorial Hall ist das genannte Panorama ausgestellt, auch den A-Bomb Dome findet man dort. Wieder bin ich zu Tränen gerührt. Das Gedenken an zahllose Opfer übermannt.
Für die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki haben sich die USA bis heute nicht entschuldigt. Der amerikanische General Curtis E. LeMay wird später sagen „Ich nehme an, wenn ich den Krieg verloren hätte, wäre ich als Kriegsverbrecher verurteilt worden. Glücklicherweise waren wir auf der Seite der Gewinner.“
All das hat für Hiroshima keine Bedeutung. Hiroshima klagt nicht an. Hiroshima erinnert.
Mourning the lives lost in the atomic bombing, we pledge to convey the truth of this tragedy throughout Japan and the world, pass it on to the future, learn the lessons of history, and build a peaceful world free from nuclear weapons.
Inschrift der Stadt Hiroshima
(Frei übersetzt: „In Trauer über die Leben, die durch die nukleare Bombardierung verloren gingen, geloben wir, die Wahrheit dieser Tragödie Japan und der Welt zu überliefern, zukünftigen Generationen mitzuteilen, von der Lektionen der Geschichte zu lernen und eine friedliche Welt frei von nuklearen Waffen aufzubauen.“)
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